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Viren und Evolution

Die Mitteilung im St. Galler Tagblatt (26. April 2004) über ein massives Karpfensterben im Bodensee beschäftigte die Medien nur kurz. Etwas länger die Frage, ob die einzelnen aus Beijing gemeldeten Sars-Fälle wiederum den Anfang einer weltweiten Epidemie ankündigen könnten. Der Anstieg der Fallzahlen neu gemeldeter HIV-Diagnosen hat auch Politiker wieder etwas mehr für die nicht besiegte Krankheit sensibilisiert. Die einzelnen Todesfälle in diesem Frühjahr bei Menschen in Südostasien, die am Vogelgrippevirus erkrankt sind, scheinen sich nicht wiederholt zu haben. Dennoch, solche Meldungen verunsichern. Wir fragen uns, ob wir am Beginn einer neuen Ära immer wiederkehrender Epidemien stehen oder ob dies längst etablierte Phänomene sind. Oder vielleicht beides?

 

Meldungen über neue Infektionskrankheiten lösen existentielle Ängste aus. Sicherheit gibt uns die Vorstellung, dass wir uns täglich mit Abertausenden von Mikroorganismen problemlos auseinandersetzen. Unsere Haut und die Schleimhäute, unser Darm aber auch unsere Luft und die Umgebung sind übersäht damit. Dass die Darmflora wichtig für unsere Gesundheit ist, wissen wir aus Erfahrung im Umgang mit Antibiotika. Möglich – mindestens, dass auch die anderen Mikroorganismen in unserer Umgebung eine wichtige Funktion ausüben. So gesehen können wir Infektionskrankheiten auch als kleinere «Unfälle» betrachten in einem System, bei welchem die Koexistenz von verschiedenen Mikro- und Makroorganismen die Regel ist.

 

Tatsächlich haben wir uns in den Jahrmillionen Jahren unserer Entwicklung bestens an die Erreger der Umgebung angepasst. Herpesviren existieren schon seit Ewigkeit. Sie richten sich in unserem Organismus in einer latenten Form so gut ein, dass wir nichts davon spüren. Eine Fieberblase ist eine Bagatelle, die wohl nur dem HSV selbst zur Übertragung dient. Das Epstein-Barr-Virus ist so gut adaptiert, dass wir – wenn wir als Kleinkind infiziert werden – zeitlebens nichts von dieser Infektion fühlen.

 

Diese Beispiele sind keine Ausnahmen. Wir wissen heute, dass 5% unserer Erbsubstanz (DNA) von Retroviren stammt. Zeugnis also von Viren, welche während unserer Evolution durch die Transkription und Integration der Virus-RNA in die Wirts-DNA unserer Stammzellen gelangt sind.

 

Neben der gut angepassten Koexistenz mit Mikroorganismen passieren hin und wieder Unfälle. Die Entstehung von HIV ist ein prominentes Beispiel unserer Zeit. HIV hat sich aus einem nahe verwandtem Virus, dem SIV, von Schimpansen entwickelt. Die Landflucht, Kontakt mit und Verzehr von Affenfleisch, Lastwagentransporte quer durch Afrika und die damit verbundene Prostitution waren Voraussetzungen für die Entstehung der Epidemie. In einigen Tausend Jahren wird auch dieses Virus kaum mehr Probleme verursachen.

 

Viele Viren haben die Eigenschaft, sich lediglich in einer Spezies effizient vermehren zu können. Die Adaptation an den neuen Wirt, welche ein Speziessprung voraussetzt, ist oft zu gross, als dass sich das Virus noch effizient fortpflanzen kann. In der Regel kann das Influenzavirus der Vögel beim Menschen keine Epidemie auslösen. Es braucht das Schwein als Zwischenschritt. Eine Ausnahme waren die einzelnen Fälle von «Vogelgrippe» in Südostasien im vergangenen Winter. Das Virus konnte zwar direkt vom Vogel auf den Menschen übertragen werden, doch die Übertragung Mensch-zu-Mensch war insgesamt immer noch relativ ineffizient.

 

Fassen wir zusammen: Viren adaptieren sich über die Jahrhunderte gut an ihren Wirt und können nur selten, unter besonderen Bedingungen (oder ist es Zufall?) auf einen anderen Wirt übertragen werden, wo sie dann – das Beispiel HIV erinnert daran – schweren Schaden anrichten können. Sogenannte «Emerging Infections» sind somit nie Neuerfindungen der Natur, sondern es handelt sich um die Übertragung von Erregern vom Tier auf den Menschen. Weitere Beispiele dafür gibt es zahlreiche: Hämorrhagische Viren (Ebola, Dengue, usw.), West-Nile Virus, Sars, Kuhpocken usw. Tiere sind sozusagen das «Reservoir» für neue Infektionen beim Menschen.

 

Aber nicht nur Menschen sind von solchen mikrobiologischen Unfällen betroffen. 1999 geschah in der Nordsee etwas Eigentümliches. Kranke Robben wurden massenhaft an Land gespült. Eine Virusinfektion wurde vermutet. Nach einigen Monaten konnte bewiesen werden, dass die Tiere an Influenza B erkrankt waren. Influenza B ist ein Virus, das man nur beim Menschen kennt. Die Phylogenetische Analyse zeigte, dass die Robben durch Virusstämme vom Menschen infiziert sein mussten. 50% der Robben in der Nordsee waren innert kurzer Zeit verstorben an einer Krankheit, welche für diese Spezies neu war, dem Menschen jedoch kaum je Probleme bereitet.

 

Was fördert den Übertritt von Virusinfekten von einer Spezies auf die andere? Im Falle der Influenza-B-Epidemie der Nordseerobben vermutete man eine Zunahme der Robbenpopulationen in der Nordsee. Modernere Theorien gehen davon aus, dass alleine die Populationsdichte verantwortlich ist für die Auslösung einer Epidemie. Nach dieser Theorie haben die speziesspezifischen Infektionserreger eine wichtige Bedeutung für die Regulation von Populationen. Hat eine Spezies einen grossen Überlebensvorteil, so leben deren Individuen auf immer kleinerem Raum zusammen. Die Chance, dass ein Erreger übertragen werden kann, nimmt zu. Die Spezies wird somit anfälliger für die Infektion. Vertreter dieser Theorie vermuten auch, dass sich die Weltbevölkerung in den letzten 400 Jahren nur durch den Einfluss von Hygienemassnahmen und Impfungen so rasch vermehren konnte. Erst die Verhinderung der Autoregulation durch Infektionserreger konnte nach dieser Theorie die seit Jahrtausenden stabile Zahl der Weltbevölkerung aus dem Gleichgewicht bringen. Mindestens plausibel, wenn man die Entwicklung der Weltbevölkerung betrachtet.

 

Zurück zum Karpfensterben in diesem Frühjahr. Im Tagblatt vom 26.4.04 steht, dass die Tiere an einer Virusinfektion erkrankt sind. Etwas weiter lesen wir: «Im letzten Sommer vermehrten sich vor allem die Karpfen rasant und entwickelten sich in bisher nicht gekannter Art und Weise.» Vielleicht doch einfach ein ganz normales Regulationsphänomen der Natur. Kann die Menschheit dieser mikrobiellen Bevölkerungsregulation noch entgehen? Vermutlich werden uns neue Infektionskrankheiten in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch häufig beschäftigen!

 

 

PD Dr. med. Pietro Vernazza, Fachbereichsleiter, FB Infektiologie/Spitalhygiene, Kantonsspital St. Gallen.



 
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